Erwartungen – was sie mit uns und unserem Leben machen
Wir saßen am Nachmittagstisch, ich wollte etwas ruhiges mit den Kindern machen, über den Tag reden und runterkommen, denn die letzten Tage waren nicht leicht. Ich habe einen Obstteller vorbereitet und Kekse auf den Tisch gestellt. Alle setzen sich. Ich frage, wie es im Kindergarten war.
Rebekka fängt an zu weinen und Hanna mit dem Obst zu spielen. Sie nimmt sich alle Äpfel vom Teller und reiht sie vor sich auf. Rebekka fängt an Kekse auf den Boden zu schmeißen. Alle reden durcheinander. Hanna singt. Und ich verzweifel. So hatte ich mir das nicht vorgestellt, so hatte ich das nicht erwartet.
Erwartungen begleiten uns tagtäglich. Nicht immer ist uns bewusst, dass wir sie haben, nicht immer ist uns klar, wie sehr sie unser Leben beeinflussen. Aber das tun sie…
Erwartungen
Sie begleiten uns durch unser Leben. Ohne sie wäre alles ganz schön schwierig. Ich meine, könnt ihr euch vorstellen durch die Straßen zu laufen ohne zu wissen, ob euer Gegenüber euch einfach umrennt? Oder ob die Verkäuferin auch wirklich Lust hat die Waren abzurechnen und am Ende das richtige Wechselgeld herauszugeben? Ihr könntet jetzt sagen, das sind alles Regeln, Gesetze und Vorgaben, Normen unserer Gesellschaft. Aber genau an diesen richten wir unsere Erwartungen größtenteils aus. Diese Normen und Gesetze haben wir kennengelernt, haben sie seit unserer frühsten Kindheit verinnerlicht. Wir wissen, dass wir im Laden bedient werden, dass der Arzt weiß, was er tut und dass unsere Mitmenschen auf die Frage “wie gehts” nicht mit Kopfstand reagieren.
Erwartungen erleichtern uns also das Leben. Sie machen es leichter, in dem wir nicht jedes einzelne Gefühl, jede Entscheidung, oder Situation einzeln abwägen müssen, sondern einfach handeln können. Wenn wir am Telefon Tschüss sagen, legen wir auf und singen nicht die Nationalhymne. Wenn wir stolpern stehen wir, oder richten wir uns wieder auf und beschließen nicht ein Mittagsschläfchen zu machen. Und wenn uns jemand etwas trauriges erzählt, fangen wir nicht an zu lachen. Erwartungen machen unser Leben berechenbar, und das ist gut so.
Aber Erwartungen machen eben auch das: sie machen unser Leben berechenbar. Das kann nicht nur hilfreich, sondern auf der anderen Seite auch einschränkend sein. Denn das Leben verläuft ziemlich oft nach den gleichen Mustern. Wenn wir jemandem etwas trauriges erzählen, erwarten wir, dass er Anteil nimmt. Wenn wir im Supermarkt sind erwarten wir genauso, dass nicht wir abkassieren, sondern dass das die Angestellten machen, ohne Aufforderung. Wir gehen durch das Leben und erwarten, dass alles so läuft, wie es nun mal laut der Gesetze und Normen laufen soll. Und damit schränken uns unsere Erwartungen auch ein. Nämlich genau dann, wenn wir an ihnen festhalten. Wenn wir Schubladen aufmachen, denn diese sind im Grunde auch nur große Erwartungsboxen. Wenn wir nicht mehr außerhalb der Schubladen und unserer Erwartungen denken. Das passiert schnell, wenn wir zum Beispiel vorschnell über Personen urteilen (die hat bunte Haare, bestimmt eine Gesellschaftsverweigerin, die nichts aus sich gemacht hat!), sondern auch, wenn wir einfach (in schwierigen, hektischen, oder stressigen Momenten zum Beispiel) auf die einfachsten Denk- und Handlungsmuster zurückgreifen. Auch wenn wir gar nicht genau darüber nachdenken, dann haben wir viele Erwartungen und sind manchmal wirklich sehr enttäuscht oder gar schockiert, wenn alles ganz anders läuft, als wir dachten (was, die Dame ist Vorstand einer großen Firma? Mit bunten Haaren?). Wenn unsere Erwartungen nicht erfüllt werden, fühlt sich das manchmal ein bisschen wie Konfrontation an. Nicht selten entstehen daraus Streits und Konflikte. Ich habe euch schon einmal in einem Beitrag gezeigt, wie schnell dieselbe Situation unterschiedlich bewertet werden kann. Und wie sollte es auch anders sein, heute habe ich noch ein Beispiel für euch.
Ein Spaziergang zu viert
Wir vier: Papa, Hanna, Rebekka und ich, wir saßen drinnen, uns war langweilig und als einer auf die Idee kam an die Stadtgrenze zu fahren und ein bisschen Zeit an der frischen Luft zu verbringen, waren wir alle vier gleich Feuer und Flamme. Wir alle wollten raus und haben uns bei dem Gedanken daran wirklich sehr gefreut. Was aber dann passiert ist, ist wohl der klassische Fall von unterschiedlicher Erwartungshaltung.
Wir kamen an. Felder, ein See (der wegen des Wetters natürlich ausgeschlossen war) und Wald.
Papa: Unser Papa wandert unglaublich gerne, am liebsten abseits der Wege durch Gebirge, Wald und allem, was so aussieht, als ob es eine Herausforderung wäre. Er wollte laufen und lief auch los, Richtung Wald. Es sollte ja immerhin ein Spaziergang an der frischen Luft werden, oder?
Rebekka: Direkt neben dem Parkplatz lag eine große Kuhweide, darauf einige Kühe mit den schönen Glocken um den Hals. Rebekka wollte Kühe anschauen. Sie setzte sich ins Gras, schaute den Kühen zu und freute sich. Und es sollte doch auch Zeit an der frischen Luft sein, oder?
Hanna: Hanna ist unser kleiner Wildfang. Am wohlsten fühlt sie sich, wenn sie rennen kann. Und springen. Also lief sie auf die Felder und rannte. Im Kreis, rückwärts, mit ausgebreiteten Armen, sprang wie ein Pferd. Das Kind ist einfach glücklich, wenn es rennen kann. Und das sollte es ja auch sein, Bewegung an der frischen Luft, oder?
Ich: Stand dazwischen, musste natürlich bei Rebekka bleiben, aber unser Papa wollte laufen und wollte, dass die Kinder endlich hinterher kommen. Hanna hat mich aber schon gar nicht mehr gehört, bei der Rennerei und dem Wind. Aber wollten wir nicht gemeinsam etwas unternehmen?
Puh! Also ich denke, das war ein Griff ins Klo, oder? Jeder hatte sich bei dem Ausflug etwas komplett anderes vorgestellt und irgendwie waren zwischendurch alle stinkig, weil die andere trödelten, oder nicht mitspielen wollten (oder die Kühe einfach nicht noch lustiger waren). Die Erwartungen hatten uns einen Streich gespielt. Aber das ist völlig unnötig und macht nur das Leben schwer, wenn man sich so auf seine Erwartungen versteift. Da geht ein ganzer Haufen Flexibilität verloren. Mal ganz abgesehen von Freude, Spaß und Fröhlichkeit.
In dieser Situation hatten wir also zwei Möglichkeiten: wir konnten anfangen zu Streiten. Darüber, was nun eigentlich mit “Zeit an der frischen Luft” gemeint war, welche Erwartung nun die “richtige” wäre. Oder wir konnten unsere Erwartungen anpassen, konnten reden und Kompromisse schließen.
Und diese beiden Möglichkeiten hat man immer. Immer, wenn unterschiedliche Erwartungshaltungen aufeinander prallen liegt Streit in der Luft. Aber ist das wirklich nötig? Hilfreich? Ist es nicht viel angenehmer seine eigene Erwartungshaltung anzupassen? Entweder für den Moment, oder sogar längerfristig? Denn so etwas wie eine richtige Erwartung gibt es nicht. Was wir erwarten, haben wir gelernt. Aus unseren Erfahrungen, von unserer Familie, unserer Umgebung und nicht zuletzt der Gesellschaft, die natürlich überall ihre Finger im Spiel hat. Aber dabei wird deutlich, dass es keine richtigen, nicht mal viele gleiche Erwartungshaltungen gibt. Manche Bereiche im Leben sind stärker von Regeln, Gesetzen und Normen der Öffentlichkeit bestimmt und dadurch gleichen sich in diesen Bereichen auch die meisten Erwartungen der Menschen. Aber halt nicht alle. Beispiel Hochzeit: Die meisten Menschen haben bei dem Gedanken an eine Hochzeit wohl ähnliche Bilder im Kopf. Die Braut trägt ein weißes Kleid und an einem sonnigen Tag wird mithilfe von tausenden Blumen der schönste Tag im Leben gefeiert. So oder so ähnlich sehen Hochzeiten nicht nur in den Vorstellungen, sondern meist auch in der Realität aus. Ähnlich. Aber nicht alle identisch. Und dann gibt es noch die Bereiche, die stark von uns selbst und unserer Familie geprägt sind. Um da auf einen Nenner zu kommen reicht es nicht die verschiedenen Erwartungen aufeinander prallen zu lassen, sondern es muss Kommunikation stattfinden. Wie eben bei unserem Spaziergang beispielsweise.
Einige Bereiche sind mit Erwartungen dermaßen überladen, dass es schwer ist dem überhaupt gerecht zu werden, selbst wenn man es versucht. Ein Beispiel ist Weihnachten. Um Weihnachten, die Feiertage und das Fest an sich ranken sich so zahlreiche Erwartungen, dass man sich unter dem Druck schnell unwohl fühlt. Nicht nur die eigene Familie hat ihre Erwartungen an sich, den Abend und die anderen; auch Freunde, Traditionen und die Gesellschaft tragen großzügig zum Erwartungsberg mit bei. Aus dem an sich so schönem Fest wird dann schnell Chaos, Hektik und Druck, weil niemand weiß, wie er es nun am besten angehen soll, wie er es sich und den anderen am besten recht macht. Schade eigentlich.
Erwartungen an die Mutterschaft
Es gibt zahlreiche andere Beispiele, aber ein anderer, großer Bereich ist die Mutterschaft. Auch an Mütter werden etliche Erwartungen herangetragen, die zusammen mit den Erwartungen, die die Mütter an sich selbst haben, eine enorme Last darstellen können. Noch vor 70 Jahren gab es ein Familienleitbild, ein Idealbild. Die Erwartungen, die an Mütter und Frauen herangetragen wurden waren klar formuliert. (Ob diese Erwartungen nun zum besten der Frau waren ist wohl ein anderes, viel diskutieres Thema). Heute gibt es weit zahlreichere Familien- und Erziehungsmodelle. Tausend Wege führen die Mutter zum Familienheil. Und dabei muss sie alles sein und alles geben. Wehe sie tut dies nicht. Immerhin geht es um die Kinder, die brauchen die Begleitung und Unterstützung der Familie (meist Mutter). Und wehe sie tut dies, gibt alles. Weiß sie denn nicht, dass man heutzutage auf sich achten muss? Achtsamkeit nicht nur in Bezug auf Kinder und Mitmenschen, sondern auch auf das eigene Mutterleben großgeschrieben wird? Mütter haben es schwer, denn sie können es keinem recht machen, am wenigsten sich selbst. Es gibt nicht nur zahlreiche Erwartungen, die sich auf Mütter und Mutterschaft ausrichten, sondern viele widersprechen sich auch ganz klar. Sei nicht übermotiviert, aber warum kann dein Kind noch nicht bis 10 zählen (weißt du eigentlich, dass du ihm damit seine gesamte berufliche Zukunft verbaust?)? Sei keine Helikoptermutter, aber warum hast du dein Kind nicht zu einem (zweiten, dritten) Sportkurs angemeldet (Du willst doch nicht die motorische Entwicklung vernachlässigen?)? Gönn dem Kind doch mal was, uns hat Zucker auch nicht umgebracht, aber um Himmels willen, hast du denn in den letzten Jahren nicht mitbekommen, was Zucker mit Körper und Geist macht? Trau deinem Kind zu selbstständig zu sein, aber schick es niemals nicht auf keinen Fall alleine um die Ecke zum Bäcker (weißt du etwa nicht, was da alles passieren kann?)?
Alles was wir für uns und andere tun können, ist unsere Erwartungen etwas herunter zu schrauben und regelmäßig zu kontrollieren. Wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, dass unsere Erwartungen ein Abbild von Regeln und Normen, unsere Mitmenschen aber einzigartige Lebenwesen, mit individuellen Geschichten sind, dann hilft das uns allen. Und nimmt uns vor allem jede Menge Druck. Denn mal ganz ehrlich, den gibts schon an anderen Stellen genügend!
Liebste Grüße,
eure Jenny
Ein Kommentar
Alex
Ja, Erwartungen sind so eine Sache. Ich hatte letztens auch mit meiner Schwiegermutter einen Disput. Ich habe ihr die kleine auf eine Geburtstagsfeier gebracht und gedacht, dass sie sie auch über Nacht behält. Sie hat erwartet, dass ich sie nach drei Stunden wieder abhole. Jetzt wollen wir das vorher besser absprechen